17.10.2010

Zürich -> Tbilissi, 6. Etappe: Der Kazbeg - das Matterhorn des Kaukasus

Die Bergwelt Swanetiens und diejenige um den berühmten Berg Kazbeg gehören zur gleichen grossen Kette im Kaukasus. Aber von der einen Seite auf die andere zu kommen, ist nicht direkt möglich. Einerseits ist da die nicht-anerkannte, sich selbständig erklärte Region Südossetien dazwischen, die von Russland bewacht wird und somit kein Durchkommen möglich ist. Andererseits sind die Gipfel dazwischen mehrheitlich eher unzugänglich. Also fährt man von Swanetien hinunter ins "Flachland", begibt sich auf die vielbefahrene Verbindungsstrasse zwischen Tbilisi und dem Schwarzen Meer und biegt dann einige Kilometer vor der Hauptstadt wieder links ab nordwärts Richtung Berge. Die grosse Verbindungsstrasse von Tbilisi nordwärts über den Kaukasus ist legendär: Sie wird schon in der Antike als die kürzeste, aber nicht unbeschwerliche Verbindung über den Kaukasus erwähnt; sozusagen also der Gotthard des Kaukaus. Beschwerlich war diese "Georgische Heerstrasse" nicht nur wegen der gefährlichen Verhältnisse von Schnee, Wasser und Steinschlägen, sondern auch wegen der zahlreichen Überfälle. Im 19. Jahrhundert wurde die Strasse von russischen Kosaken ausgebaut und somit zu einer wichtigen Handelsverbindung. Jedoch schon wenige Jahre später brach dieser Wirtschaftszweig mit der Fertigstellung einer Eisenbahnlinie entlang des Kaspischen Meers bis Baku und von Baku über Tbilisi zum Schwarzen Meer ein. Wenn man heute auf dieser Strasse unterwegs ist, muss man annehmen, dass der Strassenverkehr trotz der Einschränkungen an der russischen Grenze lohnenswert ist: Man sieht, wie sich armenische und asserbaidschanische Lastwagen hoch- und runterquälen. Für uns war die Fahrt sehr angenehm: Es hatte wenig Verkehr und die Strasse war im Vergleich zu Swanetien in sehr gutem Zustand. Nur über den 2375m hohen Kreuzpass mussten wir die üblichen Slalomfahrten um die Schlaglöcher herum machen. Die Aussicht auf der ganzen Fahrt ist grandios. Bei der ersten Möglichkeit, den Kazbeg zu erblicken, waren wir noch enttäuscht: er war dicht in Wolken gehüllt. Das ist anscheinend sehr häufig der Fall, in unserem Reiseführer steht, dass "er es liebt, sich schon am Vormittag in undurchdringliche Wolkenhaufen zu hüllen; nicht wie ein scheues Mädchen, sondern eher wie ein mürrischer, der Welt überdrüssiger Alter". Der Kreuzpass ist übrigens sehr unscheinbar: kein Restaurant, kein Kiosk, nur ein Stein, auf dem in Russisch Name und Höhe des Passes stehen. Auf der anderen Seite des Passes durchquert man die letzten georgischen Dörfer; danach folgt die Darjal-Schlucht (auch diese erinnert mit ihrer Geschichte an unsere Schöllenen!) und an deren Ende bringt einen spätestens der hohe Stacheldrahtzaun zur russischen Grenze (Nordossetien) zum Stillstand. Für Ausländer ist die Georgische Heerstrasse also eine Einbahnstrasse. Aber es lohnt sich, beide Richtungen zu befahren. Im Dorf Kazbeg (oder neu auch wieder Stepantsminda genannt) machten wir einen Halt und erblickten ganz plötzlich das Unglaubliche:
Der 5033m hohe Kazbeg hatte sich enthüllt und präsentierte sich uns in seiner ganzen Pracht. Verständlich also, dass dieser Berg die Sagen- und Götterwelt inspiriert hat. An den Wänden des Kazbeg soll ja Prometheus für seinen Frevel büssen, den Menschen das Feuer gebracht zu haben. Friedrich von Bodenstedt (1819-1892) beschrieb seine Eindrücke von diesem Berg an der Verbindung zwischen Okzident und Orient folgendermassen: "Vor mir stieg in schauerlicher Schöne der gigantische Kasbek, der vielbesungene, sagengeheiligte Berg, von dessen Gipfeln periodisch alle sechs oder sieben Jahre die dort angehäuften Schnee- und Eismassen in furchtbaren Lawinen herabstürzen, Menschen und Dörfer in ihrem Falle begrabend. Nach zwei Meeren streckt er seine Arme aus; auf zwei Weltteile schauen seine weithinleuchtenden Augen: derweilen die Länder der Osseten, der Kisti, der Gagai, zu seinen Füssen sich winden."*
Nach diesem eindrücklichen Erlebnis machten wir uns auf in ein Seitental, das Sno-Tal. Hinter dem hintersten Dorf - Juta - auf einer kleinen, ganz abgelegenen Hochebene auf 2150m, installierten wir uns, um die Nacht in der Einsamkeit der Bergwelt zu verbringen. Wir richteten also unser Nachtlager in unserem Reisegfährt ein und kochten uns vorher ein feines Abendessen. Sobald die Sonne untergegangen war, wurde es sehr schnell sehr kalt. Die Nacht war mondlos und sternenklar - so viele Sterne am Himmel sehen zu können, ist im Alltag Westeuropas eine Seltenheit geworden. Doch die klare Nacht hatte ihren Preis: Trotz vieler Schichten Fleece und Merino und ein paar Versuchen, mit dem Gaskocher den Innenraum des Reisegefährts zu heizen, erwachten wir am Morgen bei einer Innentemperatur von -1°C, während es draussen auf -7°C gesunken war. Zu erwähnen ist noch, dass wir am Abend einen Besuch eines gut bewaffneten georgischen Grenzsoldaten hatten: Er erkundigte sich über unsere Absichten und legte uns nahe, nicht weiter ins Tal hinauf zu fahren, da wir sonst der russischen Grenze zu nahe kommen würden. Per Funk gab er seinen Fund - also uns - gleich irgendeiner Zentrale durch. Somit waren wir also sicher - vor wem? Nach dem Frühstück fuhren wir zurück nach Juta, von wo aus wir eine Wanderung unternahmen. Noch auf 2400m trafen wir hier - also Mitte Oktober - auf weidende Kühe: die südlicheren Breitengrade des Kaukasus machen dies möglich. Wir stiegen bis etwa knapp auf 2800m auf. Wenig später würden die Schneefelder beginnen. Unterdessen hatte sich der strahlend blaue Himmel innert weniger Stunden verzogen und schickte von seinen Wolken mit viel Wind beschleunigte Eiskörnchen gegen uns. Gestärkt mit heissem Tee und letzten Vorräten an Schweizer Schokolade nahmen wir nach dem Abstieg die Rückfahrt unter die Räder. *zitiert nach: Fried Nielsen (Hrg.), Europa erlesen - Georgien, 2006.
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