30.10.2010

Georgien - Sakartvelo - Grusija - Gürcistan* - ein Teil von Europa? Eine kleine Replik

"Im Norden, Süden und Westen ist Europa von Meeren umgeben. Das Nördliche Polarmeer, das Mittelmeer und der Atlantische Ozean bilden die natürlichen Grenzen dieses Kontinents. Als die Nordspitze Europas betrachtet die Wissenschaft die Insel Wagera, die Südspitze bildet die Insel Kreta und die Westspitze die Inselgruppe Dunmore Head. Die Ostgrenze Europas zeiht sich durch das Russische Kaiserreich den Ural entlang, durchschneidet das Kaspische Meer und läuft dann durch Transkaukasien.
Hier hat die Wissenschaft ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Während manche Gelehrte das Gebiet südlich des kaukasischen Bergmassivs als zu Asien gehörig betrachten, glauben andere, insbesondere im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung Transkaukasiens, auch dieses Land als Teil von Europa ansehen zu müssen. Es hängt also von Ihrem Verhalten ab, meine Kinder, ob unsere Stadt zum fortschrittlichen Europa oder zum rückständigen Asien gehören soll."
Mit diesen Sätzen beginnt das Buch "Ali und Nino" von Kurban Said (ein Pseudonym für die Publizistin Elfriede von Ehrenfels und vermutlich dem Kaffeehausliteraten Lev Nussimbaum, ein Jude, der später zum Islam konvertierte), geschrieben um 1937. Das Buch blieb lange Zeit verschollen und tauchte erst in den 1970er-Jahren wieder auf. Es behandelt die Schwierigkeiten einer Verbindung zwischen der christlichen Georgierin Nino und dem muslimischen Asserbaidschaner Ali kurz vor der russischen Revolution von 1917, also sozusagen ein kaukasisches "Romeo und Julia".
Die Idee, dass Europa fortschrittlich und Asien rückständig sei, hält sich auch heute noch hartnäckig. Wir wurden mehrmals von Einheimischen gefragt, was wir denn von Georgien hielten, wie ihre Sprache in unseren Ohren klänge, etc. Wenn wir antworteten, dass wir mehr europäische als asiatische Elemente (welche auch immer dies dann sein mögen...!) in ihrem Land erkennen könnten, waren sie immer hocherfreut.
Dies ist auch ganz im Sinne von Staatspräsident Sakaschwili, der Georgien so schnell wie möglich so europäisch wie möglich machen möchte. Unsere Gastgeberin in Tbilisi bezeichnete ihn sogar als infantil: Sobald er etwas in Westeuropa gesehen hat, das ihm gefällt, muss er es sofort auch in Georgien haben, seien es nun Springbrunnen, Skiresorts oder anderes. Natürlich hat er aber auch Positives aus Europa importiert: z.B. gibt es seit einiger Zeit die Gurtentragepflicht beim Autofahren. Ausserdem wird man ab nächstem Jahr die Scheiben der Autofenster nicht mehr so stark verdunkeln dürfen. Es ist nämlich so, dass viele Autos (vor allem die besseren Wagen) mit rundherum verdunkelten Scheiben durch die Gegend fahren, so dass man den Eindruck hat, es sässe gar niemand am Steuer. Wenn sie rückwärts fahren und etwas sehen wollen, müssen sie wegen der eingeschränkten Sicht die Fenster öffnen!
Aber von getönten oder durchsichtigen Autoscheiben hängt es nicht ab, ob Georgien eher zu Europa oder zu Asien gehört. Unser Eindruck ist einhellig, dass vom Kulturellen her gesehen Georgien sehr europäisch ist. Ob dies damit zusammenhängt, dass Georgien als eines der ersten Länder das Christentum zur Staatsreligion gemacht hat und trotz aller wechselnden Invasoren und Eroberern aus der Türkei, Persien, Mongolei, etc. daran festgehalten hat, lässt sich wohl nicht beweisen. Der Tourismusslogan von Georgien hält sich aber selbstbewusst an diese Version: "Europe started here".
Die aus westeuropäischer Sicht völlig übertriebene Huldigung an die Vereinigten Staaten hat etwas groteske Züge, wurde doch der Flughafen von Tbilisi in "George W. Bush Airport" umbenannt! Vor allem wenn man bedenkt, dass es ab Tbilisi nicht mehr so weit ist bis zu den vom ehemaligen Präsidenten der USA verursachten Kriege in Irak und Afghanistan...
Georgien hat in den letzten Jahren viele - meistens erfolgreiche - Anstrengungen unternommen, die Infrastruktur zu verbessern. So sind Stromausfälle nicht mehr so häufig und meistens kann man sich mit warmem Wasser duschen. Trotzdem ist es noch ein weiter Weg bis zum Niveau von Zentral- oder Westeuropa. Traurig zu sehen sind zum Beispiel die vielen alten Leute, die sich entweder auf Baustellen oder als Putzpersonal abmühen oder auf der Strasse Pinienkerne verkaufen, um so etwas ihr Einkommen zu verbessern.
Auch sprachlich will Sakaschwili sein Land möglichst rasch fit für Europa machen: Englisch soll jetzt überall als erste Fremdsprache unterrichtet werden. Viele Leute in Georgien sind zumindest zweisprachig - georgisch und russisch. Aus politischen Gründen will der Staatspräsident alles Russische abstreifen. Doch so einfach wird das nicht sein: Die GeorgierInnen gucken internationale Filme mit russischen Untertiteln, viele Produkte werden aus Russland importiert und sind entsprechend beschriftet, die russische Popindustrie ist auch in Georgien stark präsent, etc.
Unsere Gastgeberin in Swanetien zum Beispiel bedauerte die Tendenz, das Russische auslöschen zu wollen: Es sei doch nur ein Gewinn, dank der Sprache auch einen Draht zur reichen russischen Kultur, Literatur, etc. zu haben.
Siehe dazu auch diesen Artikel:
http://www.nytimes.com/2011/01/24/world/europe/24georgia.html?_r=1&partner=rss&emc=rss
Doch vorläufig stehen die Zeichen nicht auf Freundschaft zwischen Russland und Georgien. Wenn man sich die extrem wechselvolle Geschichte der Kaukasusländer über viele Jahrhunderte zurück zu Gemüte führt, fragt man sich, ob es überhaupt jemals einen dauerhaften Frieden wird geben können, auch in den an Georgien angrenzenden Gebieten wie Tschetschenien, Dagestan, etc.
Was aber auf jeden Fall klar ist: Georgien ist ein sehr dynamisches Land. Laut Mikhal, dem tschechischen EU-Mitarbeiter in Georgien mit zahlreichen Kontakten zur Regierung, sind die Minister im Durchschnitt unter 40 Jahre alt, haben meist im Ausland studiert und peitschen in Eilzugstempo Reformen durch. Dass die eine oder andere Reform mangels Erfahrung der jungen PolitikerInnen ein Schuss nach hinten ist, kommt vor. Aber dann gibt es halt eine Reform der Reform. Langfristige Voraussagen über die Entwicklung sind also eher schwierig.
Einstweilen flattern auf Georgiens öffentlichen Plätzen schon viele blaue Fahnen mit den gelben EU-Sternen...
Gamardshoba, Sakartvelo!
(= grüss dich, Georgien! Wörtlich übersetzt sagt man bei der Begrüssung auf Georgisch immer "Sei siegreich!")

*Georgien auf Georgisch: Sakartvelo
Georgien auf Russisch: Grusija
Georgien auf Türkisch: Gürcistan


Und hier, etwas später hinzugefügt, der Link zu einer Rede von Staatspräsident Saakaschwili, die er am 23. November vor dem Europaparlament gehalten hat:
http://www.president.gov.ge/index.php?lang_id=ENG&sec_id=228&info_id=5857

Georgiens Wirtschaft basierte früher zu einem grossen Teil auf dem Export von Wein. Seit dem russischen Embargo ist dieser Zweig aber fast zum Erliegen gekommen. Aber es scheint wieder ein bisschen Hoffnung zu geben:
http://www.yoopress.com/de/weinnews/weinwelt/weinbaulaender/4910.Georgien_kann_Weinexport_steigern.html

Ein Rückblick auf die Region im 2010:
http://thefastertimes.com/thecaucasus/2010/12/29/the-best-and-worst-of-the-caucasus-2010/

1 Kommentar:

  1. Ein weiterer interessanter Link:
    http://www.nzz.ch/magazin/reisen/tbilissi_erdwaerts_1.14307036.html

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